Aachener Dom; 18.07., 16 Uhr. Im Domhof umarmt mich Andrea, meine Partnerin. Sie begleitet mich während der ersten Woche. Zusammen nehmen wir an einer Domführung teil. Es ist bereits die vierte Tour an diesem Tag für die Dame, die uns einige Hintergründe des Bauwerks vermittelt. Für mich ist es das erste Mal, dass ich mich für Reliquien interessiere. Genau genommen, nicht für die Reliquien selbst, sondern für den Kult, den die Katholiken darum gestaltet haben: Der Geschichte nach erhielt Karl der Große vier bedeutende Reliquien um das Jahr 800 n.Chr. als Geschenk aus Jerusalem. Dabei soll es sich um das Kleid Marias handeln aus der Nacht, in der Jesus geboren wurde, ferner die sogenannten Windeln Jesu, dazu das Tuch, in das man den Kopf des heiligen Johannes des Täufers nach der Enthauptung legte sowie das Lendentuch Jesu, das er am Kreuz getragen haben soll. Aufbewahrt werden die alten Stoffe im vergoldeten Marienschrein, der nur im Rahmen von Domführungen aus der Nähe betrachtet werden kann. Während des Rundgangs ist zu erfahren, dass der Aachener Dom im vierzehnten Jahrhundert stark an Bedeutung einbüßte: Der Dom hatte damals den Status als Krönungskirche verloren. Die Königs- und Kaiserkrönungen erfolgten ab 1356 in Frankfurt am Main, was für Aachen einen enormen wirtschaftlichen Verlust bedeutete. So ist es wohl kein Zufall, dass sieben Jahre zuvor die „Heiligtumsfahrt” eingeführt wurde, während derer für zehn Tage die alten Stoffe öffentlich gezeigt werden – erstmals etwa 550 Jahre nachdem diese in Aachen eingetroffen waren. Und seither pilgern alle sieben Jahre viele Tausende zur Heiligtumsfahrt nach Aachen, bei welcher noch heute die besagten Reliquien im Zentrum der Zeremonien stehen. Zuletzt im Jahr 2014 waren es vielleicht 100.000 Menschen. Der entsprechenden Website ist zu entnehmen: „Für alle Pilger, die nach Aachen kommen, war und ist die Frage nach der Echtheit der Reliquien dabei nie von Bedeutung.” Dies führt dann natürlich zu anderen Fragen: Verbirgt sich in der Heiligtumsfahrt vielleicht ein universales Modell, das sich auch auf die „Reliquien” unserer Zeit übertragen lässt? Was würde es für diese Gesellschaft bedeuten, wenn sie sich alle sieben Jahre ihre Hinterlassenschaften bewusst vor Augen führen würde? Zum Beispiel alle sieben Jahre die örtliche Müllhalde besteigen? Oder alle sieben Jahre zu Tausenden in die atomaren Zwischenlager pilgern, damit diese Aufgabe, die in keine Legislaturperiode und keine Aufschwungkurve passt, von Politik und Gesellschaft nicht vergessen wird? Vielleicht entwickelt sich meine Wanderung ja auch noch zu einem Versuch, neue Zeremonien auf den Weg zu bringen oder über solche nachzudenken – ohne erst noch 550 Jahre abzuwarten.