21.08. Ankunft in Heringen. Ich stehe vor dem Werkstor der Zufahrt zur Halde IV – allgemein auch „Monte Kali“ genannt. Hier bin ich verabredet zu einer Führung, hoch auf die Halde. Und ich werde bereits erwartet: „Horch mal, das „Sie“ ist im Bergbau etwas verpönt. Ich bin Walter.“ Walter in seiner weißen Bergmanns-Uniform passt in die Welt – in diese Welt. Auf meine Frage, ob denn alle Bergleute im Salzbergbau weiße Kleidung tragen, antwortet er mit Bedeutung in der Stimme: „Nein, nur das Aufsichtspersonal.“ Dann kann ja heute nix mehr schiefgehen. Oben angekommen bleibt das Erlebnis in einer eigenartigen Schwebe. Einerseits ist die Künstlichkeit des Ortes und die Lebensfeindlichkeit des aufgeschichteten Materials omnipräsent. Andererseits hat die Situation vieles von einem Berggipfel-Erlebnis. Fehlt eigentlich nur noch eine Gondelbahn und die Skihütte. Die Aussicht ist fantastisch. So erblickt man auch ganz in der Nähe noch eine weitere Salz-Halde. Und noch eine dritte Grube gibt es hier in der Region, erfahre ich von Walter. Inzwischen gehören alle drei zu dem Konzern Kali+Salz (K+S). „In den drei Gruben zusammen sind etwa 4500 Mitarbeiter beschäftigt.“ Walter rechnet mir weiter vor: Zählt man die Beschäftigten in den von den Gruben abhängigen Betriebe hinzu, wie beispielsweise Bäcker und Lebensmittelhändler, und dann auch noch die jeweiligen Familienangehörigen der Beschäftigten, so kann man sagen, dass etwa 20.000 Menschen dank Kali+Salz hier leben können. Es klingt wie ein tiefgläubig gesprochenes Glaubensbekenntnis. Und es folgen noch weitere solcher Mantras; etwa: „Es gibt keinen reinen Bergbau.“ Das nun klingt ein wenig wie die Absolution nach der Beichte und soll heißen: Wo immer Bergleute etwas aus der Erde holen, entsteht immer auch Abfall – bergmännisch gesprochen „Abraum“. Kein Rohstoff kann in reiner Form, ohne Beistoffe gewonnen werden. Darum gibt es hier diese Halde. „Nur dank dieser Halde kann Kali+Salz weiterarbeiten.” Schon folgt das nächste Mantra: „Steht das Band, dann steht das Werk.“ Seit knapp vierzig Jahren läuft nun dieses Förderband, schüttet unaufhörlich weitere Salzmassen auf die Halde. Die inzwischen überdeckte Grundfläche misst annähernd hundert Hektar, das entstandene Plateau misst bereits etwa vierzig Hektar. Der in nur vier Jahrzehnten entstandene „Berg“ erhebt sich 100 bis 250 Meter hoch über der ehemaligen Ackerkrume. Dabei „schmilzt“ der Berg jährlich um sechs bis sieben Meter ab, was jährlich wieder „nachgefüllt“ wird: Auch wenn das aufgeschüttete Steinsalz nach kurzer Zeit steinhart wird, so bleibt es doch wasserlöslich und den Niederschlägen frei ausgesetzt. Rings um die Halde herum müssen daher Sickerwässer kontinuierlich aufgefangen und in große Becken gepumpt werden. Von dort wird diese Salzlösung dann entweder in den nahen Fluss Werra geleitet oder 400 Meter tief in die Erde in eine Kreideschicht (Plattendolomit) verpresst. In diesem Zusammenhang wiederholt Walter mehrfach sein letztes Mantra: „Du darfst nix Schlechtes schreiben über K+S!“ Mit diesen Worten im Nachhall steigen wir von der Halde ab. Es fühlt sich an, als würde man auf vereistem Schnee gehen.
Anschließend mache ich mich auf den Weg zum nächsten Hotel. (Leider liegt es im Westen; ich muss also wieder drei Kilometer zurücklaufen.) Unterwegs komme ich vorbei an einigen, eher unauffälligen Holzhäuschen. Erst die Aufschrift „Kontrollschaft Versenk-Leitung“ verdeutlicht, dass auch diese mit der Kali-Grube in Verbindung stehen.
Schließlich treffe ich auf das Mahnmal Bodesruh. Zwei freistehende Betonwände tragen eine Aussichtsplattform, die über eine Wendeltreppe erreichbar ist. Am 17. Juni 1964 wurde das Bauwerk geweiht als Mahnmal der deutschen Teilung und als „Heimkehrerdenkmal“. Ein am Bauwerk angebrachtes Relief zeigte damals auch das geteilte Deutschland in den Grenzen von 1937. Erst 1990 wurden jene Teile abgenommen, welche die ehemaligen Ostgebiete darstellten. So hat das Denkmal nun selbst eine Wunde, im Beton. Hingegen jene Wunde, auf die es zeigte, diese verwächst allmählich unter einem grünen Band.
Auf dem Stellplatz neben dem Turm parkt ein komfortables Wohnmobil; davor ein Rentnerpaar in Shorts, in Campingstühlen, versteckt hinter aufgeschlagenen Zeitungen, als wollten sie hier ihren gesicherten Lebensabend verbringen. So erhält der Ort eine komische Anmutung, wie so eine Außenstelle eines Campingplatzes. Schon wird das Denkmal zu einem übergroßen Sprungturm, von dem man sich in die Freiheit stürzen könnte, was freilich wie früher mit dem Leben zu bezahlen wäre. Tatsächlich soll es hier ja immer noch Leute geben, die auch heute nicht „nach drüben“, in das Bundesland Thüringen fahren. Die Mauern in den Köpfen sind eben am schwierigsten zu überwinden.
Später komme ich dann noch ins Gespräch mit einem freundlichen Herrn aus Heringen. Er beschreibt mir den Monte Kali als das „Wahrzeichen“ dieser Stadt. Na toll, denk ich mir. Oder auch: Haben die Leute hier vielleicht alle Kali gekokst? Welche Wahrheit gab es denn, bevor das Band eingeschaltet wurde? Und welche Wahrheit wird übrig bleiben in dieser Stadt, sobald das Band eines Tages abgestellt wird? Denn jeder Bergbau ist endlich – so lautet ein anderes Mantra. Das „Wasserzeichen der Stadt“ wäre eine zutreffende Bezeichnung für diesen Berg. Wie bei einem Geldschein muss man auch hier genau hinschauen, um das Wasserzeichen zu erkennen: Wenn der Berg jährlich um sechs bis sieben Meter „abschmilzt“, wird es geschätzt etwa vier oder fünf Jahrzehnte dauern, bis der Berg durch den Regen irgendwann einmal weggespült sein wird. Wer oder was garantiert, dass auch nach Ende der Förderung – also nach dem Ende finanzieller Gewinne – noch über weitere Jahrzehnte die Sickerwässer aufgefangen und behandelt werden? Daran kann man eigentlich nur glauben auf einer Grundannahme, dass sowohl das jetzige Wirtschafts- als auch das Gesellschaftssystem ohne größere Verwerfungen für mindestens weitere fünf Jahrzehnte fortbesteht. Nur: Wer kann das garantieren? Und wer kann daran wirklich noch glauben? Noch nicht ganz vergessen ist die Finanzkrise, als Millionen- und Milliardenvermögen wie Bierschaum dahin schwanden. Und wer könnte die Fortsetzung der jetzigen Welt über weitere fünfzig Jahre überhaupt wollen? Schließlich würde das ja bedeuten, dass noch weiterer solcher Halden hinzukämen, die dann ebenfalls den Niederschlägen ausgesetzt wären. Wie diese Halde, so wird also auch die Problemlage und das Risikopotential kontinuierlich größer, je länger „das Band“ noch läuft. Nicht nur hier.